Der Schrei
von Julia

"Stillos, einfach stillos. Dieses Bild zeugt von einem unkompetenten Maler, ohne Geschmack, ohne Emotionen. Ein gefühlskalter Anfänger."

Dr. Hannibal Lecter schreitet zum nächsten Kunstobjekt, um es mit seinem kritischen Blick zu erfassen und dafür einen passenden Ort in seinem Gedächtnispalast zu finden.

"Der Schrei von Edward Munch, ein sehr interessantes Werk. Eines der wenigen gelungenen Objekte dieser geschmacklosen, unzumutbaren Ausstellung. Erinnert mich an einen meiner ehemaligen Patienten. War ein netter junger Mann, sehr freundliches Benehmen, aber leider etwas zu aufdringlich." Dr. Lecter schwelgt eine Zeit lang in Erinnerungen.

Damals wurde die Leiche von Peter Scott im New Yorker Nationalmuseum, sitzend, inmitten einer Indianerzeltstatt gefunden. Das Opfer war übel zugerichtet. Ihm fehlten Teile der Leber und der Nebenniere, die sauber mit einem Skalpell entnommen wurden. Man hatte die Vermutung, dass Lecter sie zu kulinarischen Zwecken genutzt hatte. Nach einer dramatischen Festnahme meinte Lecter in einem Verhör nur, dass er zu ganz besonderen Gerichten immer einen trockenen Bordeaux zu trinken pflegt. Er runde den würzigen Geschmack wunderbar ab. Wenige Tage nach dem Verhör, gelang ihm eine blutige Flucht.

Dr. Lecter musste grinsen.Er schlendert weiter durch die Ausstellung und beschließt, den "Schrei" in einen hellen und hübschen Raum seines Gedächtnispalastes einzuordnen.

Währen Dr. Lecter das nächste Bild in Augenschein nimmt, hört er im Hintergrund, wie ein Mann sich lautstark über ein Bild beschwert. Lecter wendet sich der Stimme zu, um zu sehen, über welches Bild er sich auslässt.

Lecters Gedanken überschlagen sich. "Ich frage mich immer wieder, wo junge Leute die Frechheit hernehmen, so über ein Kunstwerk zu sprechen, ohne sich irgendwelche Gedanken mit ihrem zurückgebliebenen Gehirn zu machen." Dr. Lecter blinzelt ganz kurz mit den Augen wie das Objektiv einer Kamera, um sich diese öbszöne Person einzuprägen, die sich über den "Schrei" so gedankenlos auslässt.

Er hatte noch einiges mit ihm vor.

Lecter entschließt sich, dem jungen Mann in Sportklamotten, der sich gerade von seinem Freund verabschiedet, zu folgen. Das Gewimmel in den New Yorker Einkaufsstrassen kommt ihm gerade recht, um bei der Verfolgung unerkannt zu bleiben. Dr. Lecters schneeweiße Zähne blitzten hervor, als er seinem Opfer freundlich zulächelt, doch ohne, dass dieser etwas davon mitbekommt.

Der junge Mann biegt in die Bakerstreet ein und Dr. Lecter zieht es vor, sich so lange hinter einem Strauch zu verbergen, bis dieser im Haus verschwunden ist. Lecter lässt ihn währenddessen nicht aus den Augen. Er wartet einige Minuten ab und schreitet dann zügig aber unauffällig auf die Haustür zu. Er zieht ein kleines Messer aus dem Ärmel und lässt das Türschloss geräuschlos aufschnappen.

Dr. Lecter schlägt ein fast unerträglicher Geruch von angebranntem Essen und billigem Parfüm entgegen, als er den kleinen Hausflur betritt. Er stolpert fast über einen umgefallenen Blumenkübel mit einer vertrockneten Pflanze, als er auf die Treppe zusteuert, die ins obere Stockwerk führt. Dr. Lecter ist sich sicher, dass sich sein Opfer in der oberen Etage aufhält, da auf einmal laute Hip-Hop Musik von oben durchs Haus dröhnt. Der Lärm ist für Lecters Ohren beinahe unerträglich. Mit flinken Schritten steigt er die Treppe hoch und geht auf den Raum zu, aus dem die Musik ertönt.

Jack Orlando steht mit dem Rücken zur Tür und wühlt in einem Schrank. Dr. Lecter geht geräuschlos zu der dröhnenden Stereoanlage und zieht dieser den Stecker raus. Für den Bruchteil einer Sekunde herrscht erholsame Stille.

Blitzschnell zieht Dr. Lecter einen Dolch mit goldenem Griff und japanischen Schriftzeichen aus der Tasche. Er hatte den antiken Dolch während der Ausstellung unbemerkt in seine Manteltasche gleiten lassen. Als Jack sich umdreht, ist Lecter mit ein paar schnellen Schritten bei ihm und stößt dem starr vor Schreck gewordenem Mann den Dolch zwischen die Rippen.

Mit leiser Stimme flüstert er Jack ins Ohr: "Du befindest Dich in einem Schockzustand und spürst daher keine Schmerzen. Du wirst in kürzester Zeit tot sein. Möge Dir Dein eigener Schrei durch Mark und Bein fahren." Mit diesen Worten stößt Dr. Lecter den Dolch bis zum Griff in die Lunge. Ein ohrenbetäubender Schrei erfüllt den Raum. Blutiger Schaum tritt aus Jacks Mund und er sackt schließlich röchelnd in sich zusammen.

Dr. Lecter macht sich einen Spaß daraus, seine "Werke" der Öffentlichkeit zu präsentieren. Er zieht Jack den Dolch aus dem Brustkorb und legt ihn auf den Fenstersims. Dann befestigt Dr. Lecter den toten von außen am Balkongeländer mit Hilfe einer Rolle Teppichklebeband, die auf der Fensterbank lag.

Lecter blickt einige Sekunden mit einem Lächeln auf den Lippen auf den leblosen Körper herab und beugt sich dann über das Geländer.

Die Dolchklinge blitzt auf. Langsam gleiten die Gedärme aus der Bauchhöhle und klatschen auf den Asphalt.

Dr. Lecter dreht sich um und verlässt das Haus, ohne einen einzigen Gedanken an das Geschehene zu verschwenden. Die gesamte Zeit über stieg sein Puls nicht über 63.

So wie jeden Abend klickt Dr. Lecter die Webseite des FBI an, um sein Porträt unter den zehn meistgesuchten Verbrechern zu bewundern. Zufrieden stellt er fest, dass das Bild, welches das FBI von Dr. Lecter in Gebrauch hat, komfortable zwei Gesichter hinter dem derzeitigen zurückliegt. Währen Dr. Hannibal Lecter nun in seinem bequemen Sessel sitzt, leiser Kammermusik lauscht und den Abend mit einem Chateau d’Yquem ausklingen lässt, werden wir uns jetzt zurückzeihen. Würde er einen von uns entdecken, wäre das fatal.

Wenn wir am leben bleiben wollen, müssen wir unsere Neugier bezähmen.

ENDE

© 2003 by Julia

 

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