August

12. November 1994
Theatr Clwyd, Mold

WALES 1994
Regie: Anthony Hopkins / Produktion: Theatr Clwyd / Bühnenstück: Julian Mitchell nach Anton Tschechows Onkel Wanya / Musik: Anthony Hopkins
Mit: Gawn Grainger (Michael Lloyd), Anthony Hopkins (Ieuan Davies), Rhian Morgan (Sian), Leslie Phillips (Alexander Blathwaite), Lisa Orgolini (Helen), Hugh Lloyd (Pocky Prosser) u.a.

Es wird dunkel im Theatersaal, das Gemurmel verebbt, man sieht angespannt in Richtung Bühne - und da - wie in weiter Ferne - ein Glimmen, orangerot. Um das Glimmen wird es langsam hell - und da steht Dr. Lloyd (Gawn Grainger) mit einer Zigarre in der Hand. Der transparente Vorhang wird nach oben gezogen, die Bühne ist frei, das Stück beginnt...
Was für ein Glück, so weit vorn zu sitzen, genau in der Mitte, Auge in Auge mit dem Geschehen sozusagen. Und während der Doktor spricht und Gwen, die Nanny (Menna Trussler), mit ins Geschehen kommt, sitze ich nur da und halte fast die Luft an in banger Erwartung Sir Anthony Hopkins'.
DA!! Nein, nur zwei Dienstmädchen kommen herein und decken den Tisch. So langsam fällt mir das Bühnenbild auf: Zu sehen ist ein Detail getreuer Nachbau der Hausfront des Hauses, in dem der Film in Wales gedreht wurde. Davor stehen ein langer Tisch, Stühle, Korbmöbel, links vorn an der Bühne steht eine ziemlich rustikale Holzbank - Gartenmöbel eben. Die ganze Bühne liegt in einem wunderbaren Licht, warm und weich - wie ein Sommernachmittag, an dem das Stück zu spielen beginnt...
Durch die Tür schlendert - endlich!! - Uncle Ieuan (Anthony Hopkins), der Hut fällt ihm dabei aus der Hand, seine ersten Worte sind: "Yes... yes", - ich sitze also tatsächlich im Theater, und da vorn, vielleicht fünf Meter entfernt, steht einer der weltbesten Darsteller und faszinierendsten Persönlichkeiten unserer Zeit. Ich begreife das Ganze natürlich nicht, sitze neben mir, erlebe mich eher als Zuschauerin, als daß ich tatsächlich, wirklich erlebe.
Aber allmählich kann ich mich auf das Stück einlassen, ich muß mich auch angestrengt konzentrieren, weil meine Englischkenntnisse eben nur auf Ostniveau sind. Zum Glück habe ich vorher die englische Übersetzung des Onkel Wanja von Michael Frayn gelesen, sie ist der adaptierten August-Version von Julian Mitchell natürlich ähnlich. Ich habe damit gut "vorgearbeitet"!
Es dauert nicht lange - und die ganzen Bewohner des Landsitzes irgendwo in Carnarvonshire treffen ein, um Tee zu trinken: Sian (Rhian Morgan) - die Nichte von Ieuan, Mair (Rhoda Lewis) - Ieuans Mutter, Blathwaite (Leslie Phillips) - der Herr Professor, seine Frau Helen - (Lisa Orgolini) und Pocky (Hugh Lloyd) - ein Freund des Hauses. Im relativ kurzen ersten Akt wird klar, was statt des friedlich scheinenden Landhauslebens wirklich für ein Zustand herrscht. Dr. Lloyd als auch Ieuan buhlen um die schöne Helen, die sich auf dem Land und erst recht mit ihrem alten, kränkelnden Mann entsetzlich langweilt.
Das behäbige Leben von Ieuan, seiner Mutter, der Nanny und Sian wird durch die länger dauernde Anwesenheit des Professors und seiner Frau aus seiner schlummernden, aber oberflächlichen Zufriedenheit aufgewühlt. Langeweile macht sich breit und Unzufriedenheit - durch die Gefühle, die die Einzelnen untereinander wachrufen.
Da ist der Doktor, der plötzlich ständig anwesend ist - wegen Helen. Seine Anwesenheit wiederum steigert nur mehr Sians Liebe zu ihm. Und dann ist da natürlich Onkel Ieuan, dem in so kurzer Zeit so viel klar wird, aus dem so viele unterdrückte Gefühle herausdrängen, die er bisher gut unter Kontrolle hatte, weil er sie nicht wahrnehmen mußte. Er liebt Helen - und trauert um die vertane Chance, nicht um ihre Hand angehalten zu haben, als sie noch nicht die Frau des Herrn Professors war, mit dem sie sich langweilt, unter dessen Hypochondrie sie - mehr oder weniger - leidet - wie auch unter seinem Wesen, despotisch und selbstverliebt, wie er ist.
Ieuan muß das mit ansehen und wird in seiner Wut dem Herrn Professor gegenüber nur noch mehr dadurch gestärkt. Wut darüber, wie er und Sian den Landsitz pflegen, Geld eintreiben, um nichts davon für sich zu behalten, Tag und Nacht des Professors pseudo-intellektuelle Hirnzaubereien aufschreiben und übersetzen - sich für einen einzigen Menschen aufopfern, vor dem und dessen "Werk" sie doch schon lange gar keine Achtung mehr haben. Sein ganzes Leben kommt ihm vertan vor. Er ist zu klug, um abgestumpft zu sein im Laufe der zähen, ewig gleichen Jahre, zu empfindsam, um Sians Leid und ihre unerfülltes Sehnen nicht mitzuleiden und ihr letztlich auch vertanes Leben mitzuleben. Ieuan erwartet nichts mehr vom Leben - und kennt doch noch die Sehnsucht, ist voller Willen und Lebendigkeit, wenn diese vom Zuschauer auch nur erahnt werden können. Er weiß, was für ein Spiel das Leben ist und wie ernst es doch sein kann.
Spätestens klar wird das im 3. Akt, in dem das Tempo sich plötzlich fast überschlägt, aus den leisen Gesten Theatralik schießt und in den dauerhaften Fast-Stillstand Bewegung kommt: Ieuan kommt in den Salon, als der Doktor Helen küßt, einen ersten einzigen Kuß. Er hat Rosen in der Hand, die für Helen bestimmt sind. Und während der Doktor lustig vom Wetter zu reden anfängt und Helen am liebsten weit davonlaufen würde, ist Ieuan am Boden zerstört, die einzige Hoffnung auf ein bißchen Glück ist dahin, wegen eines Kusses.
Und dann kommt es zum großen Ausbruch, muß es zum großen Ausbruch kommen! Bevor die drei - verstört - den Salon verlassen können, nahen der Herr Professor und Pocky, Sian und Gwen. Ieuan, der die Rosen schnell unter einen Sessel gestopft hat (das hat sogar was Metaphorisches!), bleibt benommen sitzen und kann sich nicht rühren. Helen sitzt mit dem Gesicht zur Wand am Piano (und spätestens bei diesem Bild, das sich auf der Bühne darstellt, weiß man: da hat jemand etwas verstanden, als Ganzes. Denn Bild, Bewegung, Text - es ist eine fulminante, einheitliche Komposition!)
Der Doc, Helen und Ieuan sind also mehr oder weniger gefangen - im Raum als auch in ihren Gefühlen. Als der Herr Professor dann noch anfängt, große, selbstdarstellerische, eitle Reden zu schwingen, kann Ieuan nicht mehr an sich halten und schreit und klagt und wütet alles das hinaus und dem Herrn Professor ins Gesicht, was ihn plagt. Er ist so besessen von seiner Wut, seinem Haß, seinem Leid, seiner Scham, daß er sogar auf den Professor schießt - aber das Publikum kann zum Glück befreit auflachen - nach seinem "I missed him".
Wie tief die Verzweiflung Ieuans ist - denn die Komödie kann viel ungesehen lassen, was man nicht sehen will - wird im nächsten Akt deutlich, in dem Sian den Onkel trösten muß, der nur noch ein Häufchen Elend ist, und sie es ist, die ihn dazu bringt, vom Doktor entwendetes Morphium zurückzugeben. Dabei ist doch Sian mindestens genauso unglücklich - sie hatte Helen ihre langjährige Liebe zum Doktor gestanden - mit der Bitte, Helen möge sich doch für Sian vorsichtig in die Gefühle des Doktors hineinschleichen, um endlich Gewißheit zu bekommen, wie er zu Sian steht.
Die Gewißheit tut zwar weh, aber Sian ist eine starke Frau. Sie erkannte - und das ist beachtlich für die damalige Zeit (Jahrhundertwende) schon einige Zusammenhänge zwischen Industrie und Naturabbau, und ihr lag aufrichtig viel an der Erhaltung einer gesunden, friedlichen Umwelt. Sie wußte genau, was man tun und ändern kann - und was eben nicht.
Ieuans Leben ist eine einzige vertane Chance, eine einzige falsche Entscheidung gewesen. Und Ieuan hat noch nicht mal das Glück der Beschränkten, die davon wenigstens nichts merken. Ieuan - der liebenswerte Verlierer auf der ganzen Linie. Man fühlt und leidet so stark mit ihm mit, daß einem ganz elend ist am Ende der Vorstellung. Mir zumindest ging es so. Mir ging das schon so bei Tschechows Onkel Wanja, aber um wieviel intensiver wurden die Eindrücke natürlich durch die lebendige Darstellung - als Ieuan gebrochen am Tisch nur noch sagen kann, wie unglücklich er ist und sich Sians letzte, mehrfach wiederholte Wort: "We shall find peace" - regelrecht ins Bewußtsein beißen.
Und so sehr ich an dieser Stelle auch ein Loblied auf Sir Anthony, sein Spiel und seine erstklassige Regie absingen möchte, muß ich doch unbedingt erst das ganze Ensemble bejubeln. Jeder einzelne hat seinen Part hervorragend gespielt und den jeweiligen Charakter glänzend rübergebracht. Vor allem Gawn Grainger sei hier genannt, vielleicht auch, weil er so ein netter Mensch ist. WELL DONE, alter Freund! We enjoyed it! Und Leslie Phillips, der den Professor in seiner widersprüchlichen Erscheinung hervorragend dargestellt hat. Begeistert (gewesen) bin ich genauso von der Arbeit der diversen Designer: Eileen Diss (Set Designer), Dani Everett (Costume Designer) und Nick Beadle (Lighting Designer).
Aber, man muß sich nichts vormachen: es ist der glänzenden Arbeit Sir Anthonys zu verdanken, daß Handlung, Tempovariation, Ausdruck so verwoben miteinander in Szene gesetzt waren, damit ein Meisterwerk wie August aus einem trocken anmutenden Tschechow-Stück wird.
Allein einige der Szenenübergänge waren gänsehautmäßig gut! Zum Beispiel der, bei dem Helen monologisiert während sie im Garten steht, und man sieht, wie der Doktor von hinten plötzlich herantritt, der Vorhang hebt sich und schon stehen beide im Salon und damit in der nächsten Szene. Wunderbar!
Bei den meisten Aktwechseln war übrigens eine Musik zu hören, die - und wieder ein Lob! - besser auch nicht hätte sein können. Sie paßte wie alles - sanft bis melancholisch (und Melancholie ist ein sehr weiter Begriff) - und von wem sie ist, dürfte klar sein: Ja, von Sir Anthony - und dieser hatte in der Rolle des Ieuan wieder eine Paraderolle.
Regisseur Michael Blakemore hat mal über ihn gesagt: "Tony ist ein hervorragender Tschechow-Darsteller, bei dem die Worte und Sätze Ausdruck versteckter Gefühle sind." Und das, was Ieuan zu sagen hat, läßt ihn Hopkins schreien, flüstern, erstickt schluchzen oder - mehr oder weniger - auch sarkastisch lallen. Perfektes Intonieren, das man als Zuschauer bewußt beim ersten Mal sicher gar nicht wahrnimmt, das sich aber - wie alles bei einem Theaterstück - in ein großes Ganzes einfügt und zur Klasse des Ergebnisses beiträgt.
Was mir an Tschechow generell so gefällt - und was Julian Mitchell so ganz und gar perfekt umsetzte ins Englisch-Walisische (sprachlich als auch mentalitätsbetreffend), das ist die Unschuld, die über allem liegt. Egal, ob Momente des Glücks, der Furcht, der Unaufrichtigkeit oder tragischen Entwicklung - Tschechow vermittelt eine ganz fundamentale Liebenswürdigkeit seiner Personen bzw. Handelnden. Alles, was passiert, scheint so menschlich, so verständlich, so verzeihlich. Und es hat so viel Wahrheit in sich und Verständnis - von und über das Leben, das "ein langer, ruhiger Fluß" ist, mit ein paar Stromschnellen vielleicht und auch mal einem Wasserfall, aber letztlich erscheint es uns doch als ewig gleich und behäbig, obwohl es sich von Moment zu Moment ändert und neu ist und neu erlebt werden muß.
Und genau davon weiß Anthony Hopkins, genau dieses abstrakte Etwas über und vom Leben, das Tschechow so meisterlich niederschrieb, hat er lebendig gemacht, auf der Bühne dargestellt und darstellen lassen und für den Zuschauer nachvollziehbar gemacht. Vorausgesetzt, dieser konnte oder wollte es annehmen. Denn August ist auch nur ein Theaterstück, mit genau den Ansprüchen, die ein solches haben kann und die jeder für sich entdeckt - wie es ihm eben paßt. Unterhaltung, Anregung, Ablenkung... Was der eine demnach als Länge empfindet, sieht der andere als Muß, um den Gefühlen überhaupt folgen zu können, die (auf der Bühne) ausgedrückt werden. Der eine gähnt, in dem anderen schlagen die Emotionen Wellen. Man sieht auf den gleichen Fluß - aber dieser eine Fluß gleicht (sich) eben nur, je nachdem wer ihn wie und wo sieht.
Man kann kein Theaterstück absolut so verstehen, wie es der Regisseur gerne will, kein Buch lesen, wie es der Autor gerne hätte, keine Musik hören, wie sie der Komponist gehört hat. Diese Ansprüche sind absurd. Ob Schauspieler, Schriftsteller oder Regisseur - sie alle bieten nur etwas an - etwas momentan Beendetes, das aber von dem, der es annimmt, auf seine Art und Weise des Verstehens erst noch bearbeitet und beendet wird (wenn es überhaupt Endpunkte in der Kunst geben kann). Wenn dann - natürlich beabsichtigte - Aussagen tatsächlich ähnlich verstanden werden oder man besonders viel mit dem Gebotenen anfangen kann, ist das ein schönes Erlebnis, ein sehr befriedigendes (so wie sich jeder Mensch eben freut, wenn er sich verstanden wähnt).
August, dieses Theatererlebnis war mir jedenfalls ein - bisher selten erlebter - vollkommener Genuß. Mehr wollte ich eigentlich garnicht lauthals kundtun. PEACE!

© 1995 by Anne J.
(Hopkins Files Nr.13)

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