Great Expectations
Große Erwartungen

GB / USA 1989
Regie: Kevin Connor / Produktion: Greg Smith / Kamera: Doug Milsome B.S.C. / Drehbuch: John Goldsmith nach dem Roman von Charles Dickens / Musik: Ken Thorne
Mit: Anthony Hopkins (Abel Magwitch), Jean Simmons (Miss Havisham), John Rhys Davies (Joe Gargery), Anthony Calf (Pip), Martin Hernry (Young Pip), Kim Thomson (Estella), Ray McAnalli (Jaggers) u.a.

Langsam aber sicher komme ich mir hier schon so vor wie der Märchenonkel! Nachdem ich mich vor einiger Zeit mit den Narnia-Kinderbüchern von C.S.Lewis beschäftigt habe, geht es diesmal um die Fernsehverfilmung von Charles Dickens' Great Expectations, eigentlich ebenfalls einem Werk für die "Jüngeren" unter uns, zu denen ich definitiv nicht mehr zähle.
Neben Oliver Twist, A Tale Of Two Cities und David Copperfield gehört der 1860/61 zum ersten Mal veröffentlichte Roman Great Expectations zu den bekanntesten Werken des am 07.02.1812 in der Nähe von Portsmouth geborenen Dichters Charles John Huffam Dickens.
Die Handlung hat er in die Zeit seiner eigenen Kindheit, die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts, gelegt. Die ganze Stimmung des Romans ist vom Hauptschauplatz, der nebligen Marschlandschaft an der unteren Themse, geprägt. Hier wächst der Waisenjunge Philip Pirrip, genannt Pip (Martin Henry), bei seiner älteren Schwester auf, die mit dem gutmütigen Dorfschmied Joe Gargery (John Rhys Davies) verheiratet ist. Im Gegensatz zu seiner biestigen launischen Schwester ist Joe sein bester Freund in der Kindheit. Eines Abends, um Weihnachten herum, begegnet Pip auf dem Friedhof einem entsprungenen Häftling (Anthony Hopkins), der ihn zwingt, ihm Proviant und eine Feile zum Entfernen seiner Ketten zu besorgen. Obwohl Pip seinem Versprechen treu bleibt, ihn auf keinen Fall zu verraten, wird der Sträfling zusammen mit einem weiteren Gefangenen von der Wache gefaßt. Pip, der dies mitbekommt, schafft es jedoch, "seinem" Gefangenen noch durch ein Nicken seine Unschuld daran mitzuteilen.
Kurze Zeit später lernt Pip eine neue unheimliche Welt kennen: Er erhält die Einladung, der finanziell gut gestellten älteren Miss Havisham (Jean Simmons) und ihrer Pflegetochter Estella (Kim Thomson) regelmäßig Gesellschaft zu leisten. In ihrem verfallenen Haus herrscht eine seltsame Atmosphäre, da Miss Havisham seit dem Tag, an dem ihr Bräutigam sie direkt vor der Hochzeit sitzen ließ, das Haus nicht mehr verlassen hat, ihre Brautkleider trägt und sogar der Hochzeitskuchen noch auf dem Tisch steht. Getrieben von dem an Wahnsinn grenzenden Verlangen nach Rache, hat sie Estella zu Eitelkeit und Hartherzigkeit erzogen, damit diese einmal Vergeltung an den Männern üben soll. In Pip, der zu dem etwa gleichaltrigen Mädchen aufschaut, wächst nun der Wunsch, selber einmal ein feiner Herr zu werden.
Eines Tages, er ist inzwischen seit einigen Jahren bei Joe in der Lehre und hat Estella, ohne sie oder seine Liebe zu ihr jemals zu vergessen, lange nicht mehr gesehen, bietet sich ihm die Chance, die er immer erträumt hat: Der Londoner Rechtsanwalt Jaggers (Ray McAnalli), den er vor Jahren schon einmal im Hause Miss Havishams sah, teilt ihm mit, daß ein Wohltäter, der jedoch ungenannt bleiben möchte, Pip (Anthony Calf) die Erziehung zum Gentleman finanzieren und ihm später auch sein Vermögen hinterlassen wolle. Von jetzt an ist Pips Leben von diesen "großen Erwartungen" bestimmt; Nicht nur in finanzieller Hinsicht, da er insgeheim Miss Havisham für diese Wohltäterin hält und annimmt, daß sie ihm auch Estella zugedacht hat.
Er geht nach London, wo er beginnt, das bequeme Leben eines Gentleman und Snobs zu führen. Seine Schwester, die nach einem mysteriösen Überfall schwer behindert ist und seinen alten Freund Joe vernachlässigt er nun völlig, da er sich insgeheim seiner Herkunft schämt. In der Großstadt, wo er eigentlich nur Herbert, einen Neffen von Miss Havisham, und Wemmick, den Kanzleidiener von Jaggers, als Freunde hat, erfährt er bald, daß seine Hoffnung auf Estella nur eine Illusion war, als sie, die nur mit seinen Gefühlen gespielt hat, einen brutalen Nichtsnutz heiratet.
Plötzlich taucht auch der geheimnisvolle Wohltäter auf; Es ist Abel Magwitch, der Sträfling, dem er einst half, sich von seinen Fesseln zu befreien. Dieser hat es in der Zwischenzeit in Australien, wohin er deportiert worden war, zu Wohlstand gebracht und ist nun illegal nach England zurückgekehrt, um Pip zu sehen. Die Schilderungen seines unglücklich verlaufenen Lebensweges, die er dem entsetzten Pip gibt, führen dazu, daß Pip die vorher nie erahnten Verknüpfungen zwischen den verschiedensten Personen seiner Umgebung durchschaut: Compeyson, der Mann, der Magwitch ins Gefängnis brachte, ist der verschwundene Ex-Bräutigam von Miss Havisham, der sich durch sie nur bereichern wollte; Estella, die von Jaggers, der ihre Mutter vor einem Todesurteil bewahrte, zu Miss Havisham gebracht wurde, ist die Tochter von Magwitch, der allerdings glaubt, daß seine Tochter tot sei.
Pip sucht in seinem Heimatort Miss Havisham auf, um ihr mitzuteilen, daß sie nicht nur Estella dadurch, daß sie sie zu einer seelenlosen Marionette erzog, unglücklich gemacht habe, sondern auch ihn, da sie ihn immer in dem Glauben belassen habe, daß sie die ungenannte Wohltäterin sei, um ihre geldgierige Verwandtschaft neidisch zu machen, und er das Geld niemals genommen hätte, wenn er von Magwitch gewußt hätte. Miss Havisham fühlt, daß ihre Rache zu weit ging. Während ihres nächsten Treffens fängt durch eine Ungeschicklichkeit ihrerseits ihr altes Brautkleid Feuer, und obwohl Pip die Flammen erstickt, erliegt sie, geistig verwirrt, einige Wochen später ihrer Verletzung.
Obwohl Magwitch am liebsten für immer in Pips Nähe bleiben würde, um ihm beim "Geld um sich werfen wie ein Gentleman" zu beobachten, sieht er doch ein, daß es zu gefährlich ist, da auf seine Rückkehr nach England die Todesstrafe steht. Er ist damit einverstanden, mit Pip zusammen ins Ausland zu gehen. Doch der Versuch, auf der Themse von einem Dampfschiff mitgenommen zu werden, schlägt fehl, da Compeyson mit Polizeibeamten auf dem Wasser auftaucht. Beim folgenden Kampf ertrinkt Compeyson und Magwitch wird so schwer verletzt, daß er noch vor Vollstreckung des Todesurteils stirbt. Pip, der bis zuletzt bei ihm ist, verrät ihm nun auch, daß Estella lebt.
Als Pip Jahre später in Joes Schmiede heimkehrt, trifft er dort auf die inzwischen scheinbar ebenfalls geläuterte Estella, die ihren Ehemann nicht durch Hartherzigkeit sondern durch einen Unfall verloren hat. Es scheint, als würden sie und Pip jetzt doch noch zusammenfinden...

Dieses etwas klischeehafte Ende des Films / Romans ist auch das einzige, was mir nicht so gut gefällt, vor allem, seit ich gelesen habe, daß Charles Dickens Great Expectations im Ton der Desillusionierung und Resignation enden lassen wollte, was eher in den Handlungsablauf gepaßt hätte. Doch ein Freund riet ihm, dem Ganzen eine Art Happy End zu geben, wodurch die ganze Aussage des Romans allerdings auch moralistischer wirkt, was dem Autor aber nicht ungelegen kommt. Dieser Roman entstand in der letzten großen Schaffensphase des am 09.06.1870 verstorbenen Dickens.
Der sechsteilige Film ist meiner Meinung nach eine sehr stimmige und dem Roman gerecht werdende Umsetzung, wobei ich dazu sagen muß, daß ich das Buch erst gelesen habe, als ich beschloß, diese Kritik zu schreiben. Die Kulissen treffen die richtige Stimmung und die einzelnen Charaktere sind gut besetzt, wobei neben Wemmick und Joe besonders Anthony Hopkins und Jean Simmons herausragen. Hopkins sieht wirklich wie ein Verbrecher aus (mit leichtem Einschlag Richtung Pirat!?) und man kann gut nachvollziehen, warum Pip auch bei seinem plötzlichen Auftauchen in London anfangs noch Angst vor ihm hat. Bestimmt haben viele Kinder nach dem Anschauen dieser Disney-Production schöne Alpträume gehabt...
Für uns Hopis ist es natürlich sehr schade, daß er nur in Episode 5 und 6 längere Zeit zu sehen ist (in Episode 1 und 4 nur für wenige Minuten), da er, neben Pip, eine Schlüsselfigur des Romans ist: Er, der damals vom "Gentleman" Compeyson zum Sündenbock gemacht wurde, meint nun, daß nur ein vornehmer Herr im Leben Erfolg haben kann und glaubt deshalb, Pip einen großen Dienst zu erweisen, wenn er ihm die finanziellen Möglichkeiten gibt, als "Gentleman" zu leben. Dadurch aber bringt er ihn dazu, Joe und Biddy, eine Freundin aus seiner Heimatstadt, ganz "unfein" im Stich zu lassen. Erst durch das erneute Auftauchen Magwitchs wird Pip dazu gebracht, quasi anständig zu handeln, indem er zum zweiten Mal, nach der ersten Begegnung auf dem Friedhof, die Verantwortung für Magwitch zu übernehmen versucht. Dadurch, daß er Magwitchs Geld nun zurückweist und dadurch letztendlich seine "großen Erwartungen" aufgibt, wird er zum "Gentleman".
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß Anthony Hopkins nicht viel Zeit für seine Filmvorbereitung blieb: Der ursprünglich für die Rolle des Magwitch vorgesehene Stacy Keach erhielt wegen einer Drogensache keine Einreisegenehmigung für England (wie Magwitch!) und Tony übernahm seine Rolle kurzfristig.
Jean Simmons schafft es, die nah am Abgrund des Wahnsinns balancierende Miss Havisham so darzustellen, daß man trotz ihrer ganzen Gemeinheiten ein Gefühl von Verständnis für diese verzweifelte und vom Leben enttäuschte Frau bekommt.
Alles in allem hat der Film mir sehr gut gefallen. Eine wirklich gelungene Literaturverfilmung!

© 1995 by Bennet B.
(Hopkins Files Nr.15)

 

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