Selected Exits

WALES 1993
Regie: Tristram Powell / Produzent: Geraint Morris / Drehbuch: Alan Plater nach Gwyn Thomas' Autobiographie A Few Selected Exits
Mit: Anthony Hopkins (Gwyn Thomas), Sue Roderick (Lyn Thomas), Brendan O'Hea (18jähriger Gwyn), Gavin Rhys Ashcroft (13jähriger Gwyn), Robert Pugh (Gwyns Vater), Geoffrey Hutchings (Mr. Walford), John Grillo (Dr. Bronowski) u.a.

Der walisische Schriftsteller Gwyn Thomas (bitte nicht verwechseln mit Dylan Thomas!) wurde 1913 im Rhondda-Tal in Südwales geboren. Gwyn, das jüngste von 12 Kindern, stammte aus ärmlichen Verhältnissen; sein Vater war Grubenarbeiter, seine Mutter starb als Gwyn sechs Jahre alt war. Sein Schulabschluß mit Auszeichnung ermöglichte Gwyn Thomas ein Studium in Oxford, wo er bis 1933 Spanisch und Französisch studierte. Doch er, der Arbeitersohn und Querdenker, fühlte sich im elitären Kreis der Universität nie wohl und kehrte nach Beendigung des Studiums unverzüglich in seine Heimat Wales zurück. Anschließend eine Zeit lang arbeitslos, begann er erste Kurzgeschichten und Novellen zu schreiben. Sein Hauptwerk - mehrere Romane, an die 200 Kurzgeschichten und einige Theaterstücke - wurden aber erst ab 1946 veröffentlicht. Seinen Lebensunterhalt bestritt der Romancier 22 Jahre lang als Spanisch- und Französischlehrer an einem Gymnasium in Barry / Südwales. Einem breiten Publikum wurde er Anfang der sechziger Jahre bekannt; er verfaßte einige Hörspiele für das Radio, fungierte bald als Radiosprecher, Fernsehjournalist und beliebter Talkgast in Fernsehshows. Seine eher exzentrischen Auftritte im Fernsehen, wo er als hervorragender Rhetoriker stets eine Bereicherung für jede Diskussionsrunde war, machten seinen Namen auch außerhalb von Wales berühmt. Seine letzte Kurzgeschichte wurde 1966 veröffentlicht. Bis zu seinem Tod im Jahr 1981 schrieb Gwyn Thomas nur noch Stücke für Theater, Film und Fernsehen. Viele seiner Kritiker und frühen Leser nahmen ihm diese "Verschwendung" seines schriftstellerischen Talents übel, doch Gwyn Thomas, der als "anspruchsvoller" Literat nie mehr als einen Hungerlohn verdient hatte, war die finanzielle Unabhängigkeit, die er durch seine spätere Arbeit beim Fernsehen erlangte, letztendlich wichtiger als der literarische Ruhm.
Gwyn Thomas verbrachte nahezu sein ganzes Leben in seiner Heimat in Südwales, und sein gesamtes Werk handelt von diesem Leben und den Menschen im Rhondda-Tal. So betonte er stets, daß er sich nichts hätte ausdenken, nichts hätte erfinden müssen. Seine Erzählungen - voller Komik, Sprachwitz und Ironie - sind allesamt mehr oder weniger autobiographisch bzw. aus zweiter Hand; absurde Geschichten, die andere erlebt haben und die ihm, dem stets gerne und aufmerksam Zuhörenden, im Laufe seines Lebens erzählt wurden. So wundert es nicht, daß z.B. die häufig in seinen Storys auftauchende (erfundene) Kleinstadt Meadow Prospect sehr auffällige Ähnlichkeiten mit dem südwalisischen Porth besitzt. Auch die große Familie des Schriftstellers, die vielen Geschwister sowie sein Freundeskreis (zu dem u.a. auch Anthony Hopkins' Vater zählte!) mußten immer wieder die Erfahrung machen, selbst Erlebtes plötzlich in Gwyn Thomas' Büchern literarisch verarbeitet wiederzufinden.
Gwyn Thomas starb 1981 im Alter von 67 Jahren in Wales.

Die Fernsehproduktion Selected Exits aus dem Jahr 1993 ist die Verfilmung von Gwyn Thomas' Leben nach dessen Autobiographie A Few Selected Exits. Der Titel verrät bereits, daß sowohl Fernsehfilm als auch Autobiographie keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung von Anekdoten aus dem Leben des Schriftstellers; lauter skurrile Begebenheiten, die ebensogut aus dem reichen Fundus seiner Kurzgeschichten hätten stammen können. So kann der Zuschauer von Selected Exits bald erleichtert aufatmen, denn die Verfilmung verzichtet beinahe ganz darauf, das Fernsehpublikum mit der Aufzählung biographischer Daten, mit Einblendungen von Jahreszahlen und dergleichen, zu langweilen. Auch die Chronologie der Lebensbeschreibung wird äußerst lückenhaft wiedergegeben; der Film überspringt teilweise mehrere Jahrzehnte, was vom Zuschauer jedoch problemlos und ohne Verständisschwierigkeiten nachvollzogen werden kann. Die aus dem off gesprochenen Kommentare aus Thomas' Autobiographie dienen hier nicht dazu, diese übergangenen Lebensabschnitte unnötig mit Erklärungen zu füllen, sondern vermitteln vielmehr auf unaufdringliche und äußerst sympathische Weise einen vorzüglichen Einblick in Gwyn Thomas' unnachahmlichen Erzählstil.
Der erste Abschnitt des Films beschäftigt sich mit Gwyns Kindheit im Rhondda-Tal, den vergeblichen Versuchen, gemeinsam mit seinem Vater den Gipfel des Mountain Ash zu besteigen; vergeblich deshalb, weil sein Vater immerzu auf halbem Weg eine "Erfrischung" in einem Pub zu sich nehmen muß und anschließend - völlig betrunken - nur noch für den Abstieg und sofortigen Heimweg zu gebrauchen ist. Auf den Berg Ash, von dessen Gipfel einst der Leichnam des Revolutionärs und Freiheitskämpfers Dic Penderyn in die Tiefe gestürzt wurde, gelangen Vater und Sohn auf ihren Wanderungen durch das Tal nie. Doch Gwyn wird Jahrzehnte später ein Theaterstück über den Märtyrer Dic Penderyn schreiben, der Mann, der 1831 bei einem Aufstand im Rhondda-Tal eine blutgetränkte Fahne hochhielt, die später zur Roten Fahne der Revolution in der ganzen Welt werden sollte.
Der zweite Abschnitt von Selected Exits beginnt mit Gwyns Schulabschluß und seinem Studium in Oxford. (Der 18jährige Gwyn wird von dem Schauspieler Brendan O'Hea dargestellt, dessen Aussehen und die leicht unbeholfene und aufmüpfige Art ein wenig an den jungen Charlie Chaplin erinnern.) Trotz Meinungsverschiedenheiten (über William Shakespeare!) mit dem konservativen und spleenigen Schuldirektor, erhält Gwyn aufgrund hervorragender Schulnoten ein Stipendium, um an einer Universität zu studieren. Die Tatsache, daß sich der Sohn eines einfachen Arbeiters schließlich in Oxford einschreiben läßt, ist für das walisische Bergbaustädtchen geradezu eine kleine Sensation. Sogar der Schuldirektor gibt dem jungen Mann einen Scheck über 25 Pfund mit auf den Weg... In Oxford muß Gwyn jedoch sehr bald feststellen, daß zwischen seinem Leben in Wales und dem Universitätsbetrieb Welten klaffen. Er, ein überzeugter Verfechter der Ideale der Arbeiterklasse, wird sich nie richtig in Oxford einleben können und während seines Studiums Außenseiter und unbequemer Querdenker bleiben. Seinem Professor erklärt er schlicht und ergreifend, daß seine Unfähigkeit, sich in das System einzufügen, auf eine seltene Erbkrankheit, hervorgerufen durch ein bestimmtes keltisches Gen, zurückzuführen sei! Nachdem er schließlich mehr schlecht als recht seinen Oxford-Abschluß macht, kehrt Gwyn Thomas in seine Heimatstadt nach Südwales zurück. Dort verrät er dem älteren Bruder, daß er damit begonnen hat, Romane zu schreiben... Es vergeht eine Zeit - bis sich dann schließlich der Londoner Verleger Victor Gallancz bereit erklärt, eine von Gwyns Storys zu veröffentlichen. Um den Vertrag unter Dach und Fach zu bringen, verläßt Gwyn abermals Wales und zieht in die "weite Welt" hinaus nach London. Doch vor dem Büro des Verlegers angekommen, macht der junge Schriftsteller unverrichteter Dinge wieder kehrt und fährt zurück nach Hause. Zwar wird Victor Gallacz wenige Jahre später dennoch zehn Novellen des Autors publizieren, Gwyn Thomas jedoch wird Zeit seines Lebens keinen Fuß in das Londoner Verlegerbüro setzen. "I get close to an event, hear it breath and then... I vanish," erläutert die Stimme aus dem off.
Was folgt sind ein paar Jahrzehnte, die Gwyn Thomas als Spanisch- und Französischlehrer an einem Gymnasium in Barry verbringt. Hier setzt nun der dritte und längste Abschnitt des Fernsehfilms ein. Thomas geht mittlerweile auf die 50 zu, unterrichtet an einer Schule und wird von Anthony Hopkins, der übrigens auch sämtliche off-Kommentare spricht, dargestellt.
"Why is it that wherever I go the resident lunatic always heads straight for me?" erkundigt sich Gwyn Thomas bei seiner Frau Lyn. Er bezieht sich dabei auf den Lehrerkollegen Mr. Walford, ein äußerst seltsamer und ewig gestriger Zeitgenosse, mit dessen verschrobenen Ansichten sich Gwyn seit einiger Zeit auseinanderzusetzen hat. "Because you always listen. And you like what you hear," erwidert Lyn auf die Frage. In der Tat scheint Gwyn stets eine magische Anziehungskraft auf recht seltsame - um nicht zu sagen "verrückte" - Mitmenschen auszuüben. Ein Paradebeispiel dafür ist besagter Mr. Walford; Mr. Walford ist der Meinung, daß die Erfindung der Öllampe die letzte sinnvolle wissenschaftliche Errungenschaft gewesen sei, "forget Einstein and Rutherford!". Er beschwört Gwyn inständig, daß dieser für seine Frau einen "echten" Besen basteln müsse - so wie auch er selbst Mrs. Walford die Besen anfertigt, "because dirt will be with us till the end!" So ist der konservative Mr. Walford auch über Gwyns linke politische Ansichten schockiert und ziemlich entsetzt, daß dieser die Gesundheitsreformen des Sozialdemokraten Bevan befürwortet, ganz zu schweigen davon, daß Gwyn nicht einmal als Soldat im Krieg gedient hat. Nach fünf Jahren der gemeinsamen Lehrtätigkeit findet Mr. Walford dann auch noch heraus, daß Gwyn nebenberuflich Schriftsteller ist und bereits mehrere Novellen veröffentlicht hat. Natürlich läßt er es sich nun nicht nehmen, einen von Gwyns frühen Romanen zu lesen. Dieser ist seiner Meinung nach jedoch voll von abgründigen sexuellen Anspielungen und Ausschweifungen, so daß das Buch ganz hinten in seinem Bücherregal verschwindet - zwischen Lady Chatterley und The Blue Lagoon!
Doch die Tage als Lehrer am Gymnasium von Barry sind für Gwyn Thomas gezählt. Als Mitte der sechziger Jahre Produzent und Regisseur George Devine mit dem äußerst lukrativen Angebot, eine Komödie für sein Theater zu schreiben, an Gwyn herantritt, kündigt dieser seinen Lehrposten und widmet sich fortan den gut bezahlten Auftragsarbeiten als Stückeschreiber für Theater, Film und Fernsehen. Die Premiere seines ersten Theaterstücks fällt jedoch buchstäblich ins Wasser; aufgrund sintflutartiger Regenfälle sind Bühne und Auditorium überschwemmt, die Aufführung muß verschoben werden.
Auch im Medium Fernsehen ist Gwyn bald des öfteren zu sehen, so zum Beispiel in diversen Diskussionsrunden, in denen er sein rhetorisches Können unter Beweis stellen und seine teilweise recht unorthodoxen Lebensweisheiten zum Besten geben darf. Dort macht er die Bekanntschaft mit dem verbitterten polnischen Wissenschaftler Dr. Bronowski, ein schwieriger aber gleichwertiger Gesprächspartner, wenn es darum geht, die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst zu untermauern.
Am Ende des Films sehen wir Gwyn gemeinsam mit seiner Frau auf einem Spaziergang durch das Rhondda-Tal, die Hügel des Mountain Ash besteigend...

Da ich ohnehin ein Fan der eher "kleinen" und unauffälligen Produktionen mit Anthony Hopkins bin, ist mir auch dieser 60minütige Fernsehfilm sehr schnell ans Herz gewachsen. Selected Exits lebt hauptsächlich von den humor- und liebevoll gezeichneten Charakteren: Gwyns Vater, Mr. und Mrs. Metcalfe, der Schuldirektor, Mr. Walford oder Dr. Bronowski - allen voran aber natürlich Gwyn Thomas selbst, der sich und seine "liebenswerten Eigenheiten" stets selbstironisch, voller Tragikomik und mit einer gewissen Portion Sarkasmus auf die Schippe nimmt. Äußerst gelungen und dem Geist von Gwyn Thomas' Geschichten gerecht werdend, ist auch die Darstellung des alltäglichen Lebens in dem kleinen walisischen Bergbaustädtchen im Rhondda-Tal.
Die Schauspieler sind ebenfalls allesamt erstklassig - in einer Nebenrolle (als Gwyns Schwester) ist übrigens eine junge Dame namens Abigail Harrison (Hopkins) in ihrer ersten Sprechrolle zu bewundern! Was die Auswahl der Darsteller betrifft, so wird der notorische Nörgler lediglich bemängeln müssen, daß der von Brendan O'Hea verkörperte 18jährige Gwyn Thomas braune Augen besitzt, während wir alle wissen, daß die Augenfarbe von Anthony Hopkins, der dem Schriftsteller in späteren Jahren sein Aussehen gibt, eine irgendwie andere ist! Trotzdem sollte diese ungewöhnliche Mutation den Spaß an diesem hinreißenden Fernsehspiel nicht schmälern. Wer die ruhigeren und wenig spektakulären Hopkins-Filme wie Heartland, The Tenth Man, The Dawning oder auch Spotswood mag, wird sicherlich auch bei Selected Exits voll auf seine Kosten kommen. Selected Exits ist ein gelungenes Beispiel dafür, daß "Literaturfernsehen" (was immer das sein mag) nicht zwangsweise langweilen muß.
Also laßt' Euch von Gwyn Thomas' kleinen Welt verzaubern!

© 1995 by Bettina B.
(Hopkins Files Nr.13)

 

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