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Unschuldige
Begegnung der hannibalistischen Art Jeden
Freitag veranstaltet unsere vierköpfige Clique, bestehend aus Sabine, Johannes, Ingo und
mir, einen Videoabend. So auch am Freitag, dem 8. Mai 1992.
Wir trafen uns bei Johannes auf der Monumentenstraße in Berlin / Kreuzberg. Doch anstatt
eine Kassette in den Videorecorder zu schmeißen, machte Johannes uns darauf aufmerksam,
daß in unmittelbarer Wohnungsnähe die Außenaufnahmen für einen Film stattfinden
sollten. Es war ein Zettel im Hausflur aufgehängt worden mit der Bitte an die Bewohner,
ihre Pkws nicht auf der Langenscheidbrücke an der Monumentenstraße, sondern anderswo
abzustellen. Die Brücke würde am Abend für Dreharbeiten gesperrt werden, und da der
Film in den 50'er Jahren spiele, paßten natürlich keine moderneren Verkehrsmittel ins
Bild. Außerdem war uns bekannt, daß ein großer Regisseur, nämlich John Schlesinger,
Regie führte, woraufhin wir natürlich sofort den Entschluß faßten, uns die
Dreharbeiten anzuschauen. Der Titel des Films, The Innocent, sagte uns nichts.
Auch hatten wir keine Ahnung, welche Schauspieler dabei sein würden.
Gegen 20.00 Uhr verließen wir das Haus und stellten fest, daß auf der
Langenscheidbrücke die besagten Dreharbeiten in vollem Gange waren. Einige Scheinwerfer
säumten den Straßenrand, Mittelstreifen und Radwegmarkierungen waren mit Klebeband
abgedeckt und eine Art Wachhaus, umgeben von einigen als DDR-Grenzer gekleideten
Statisten, war errichtet worden. Auf einem Schild stand zu lesen: YOU ARE LEAVING THE
AMERICAN SECTOR, darunter das gleiche in russischer Sprache und Schrift, wobei allerdings
Fachleute am Werk gewesen sein müssen, denn mir fielen sofort drei Rechtschreibfehler
auf!
Neben uns Video-Freaks hatten sich nur wenige Zuschauer ums Filmteam versammelt, und von
Aufsehern wurden wir hinter einer Absperrung zurückgehalten. Unter den Schaulustigen
machte sich vor allen Dingen eine lautstark protestierende Frau bemerkbar, die wohl das
Berlin der 50'er Jahre miterlebt hatte und nun der Ansicht war, daß damals doch wohl
alles ganz anders ausgesehen hätte. Mit Kommentaren wie "Ich bezahle doch
schließlich Fernsehgebühren!" machte sie ihrer Verärgerung mehrfach Luft!
Dann sahen wir John Schlesinger, einen alten, ziemlich kleinen Mann mit weißem Bart, der
neben seinem Assistenten auf einem Klappstuhl saß. Neben den beiden stand ein weiterer
Stuhl, leer jedoch, auf dem aber ein uns allen bekannter Name stand: ANTHONY HOPKINS!
Außer seinem Stuhl war von ihm selbst jedoch vorerst keine Spur. Also beobachteten wir
eine Filmszene, die nun einige Male gedreht wurde. Ein Wagen fährt um eine Kurve und
macht an dem Grenzhäuschen halt.
Etwas später, nachdem die Aufnahmen im Kasten zu sein schienen, kletterte plötzlich
Anthony Hopkins aus einem VW-Bus, der, von uns allen unbemerkt, am Straßenrand gestanden
hatte. Noch mit einem Becher Kaffee bewaffnet schien Mr. Hopkins nun einsatzbereit für
die nächste Film-Szene. Den Becher Kaffee galt es also nun schnellstens loszuwerden,
worauf er sich suchend nach jemandem umschaute, der ihm das Getränk aus der Hand nehmen
würde. Da sich aber niemand darum kümmerte, mußte er nun tatsächlich selbst einen
geeigneten Abstellplatz für den Becher finden!
Als nächstes wurde eine weitere Autoszene gefilmt. Diesmal saß Hopkins selbst hinter dem
Steuer des Wagens, mußte am Wachhaus die Scheibe herunterkurbeln und einige Worte mit den
Grenzbeamten wechseln. Das ganze wurde zwei- bis dreimal wiederholt, dann eine längere
Pause eingelegt. Diese Zeit wollten wir nutzen und liefen in Johannes' Wohnung zurück, um
irgendwelche Utensilien zu finden, die wir von Anthony Hopkins signieren lassen könnten.
Johannes baute seinen aus einer Videothek stammenden Hannibal Lecter Aufsteller
auseinander, Ingo und ich wurden in Thomas Harris' Roman Das Schweigen der Lämmer
und dem Soundtrack des Films fündig. Doch als wir zurück zur Brücke kamen, war kein
Anthony Hopkins mehr zu sehen. Das Filmteam baute einige ihrer Materialien ab, man schien
nun etwas essen zu wollen. Eine Weile warteten wir noch, spazierten dann aber zurück in
Johannes' Wohnung. Da vorerst nicht weiter gedreht wurde, beschlossen wir, zu späterer
Stunde noch einmal einen Blick auf die Filmaufnahmen zu werfen und unser Glück bezüglich
eines Autogrammwunsches zu versuchen.
Es war ungefähr zwischen 1.00 und 2.00 Uhr morgens, als wir feststellten, daß die
Filmcrew weitere Szenen drehte. Unverzüglich machten wir uns also wieder auf den Weg zur
Brücke, statt Sabine, die zu müde für weitere Aktionen war, den Aufsteller
mitschleppend. Bestens ausgerüstet standen wir bald wieder auf der Straße und
beobachteten weitere Aufnahmen: Die Kamera befand sich nun auf einem Lastwagen, der auf
einem Anhänger das Filmauto hinter sich zog. Mr. Hopkins schien noch immer verschwunden,
tauchte aber dann wie aus dem Nichts plötzlich wieder auf. Johannes, Ingo und ich
beschlossen, diese Chance zu nutzen. Unsere Autogrammbitten winkte der Schauspieler,
offensichtlich unter Zeitdruck stehend, zunächst ab, erblickte aber dann Johannes'
Lecter-Aufsteller. Da konnte er natürlich nicht widerstehen. Bereitwillig signierte er
das Monstrum, eilte dann jedoch sofort zurück zum Set, während wir von den Aufsehern
wieder hinter die Absperrung geschickt wurden. Hopkins saß mittlerweile wieder im Wagen,
gab uns aber durch Winkzeichen zu verstehen, daß Ingo und ich zu ihm kommen sollten,
damit er auch Buch und CD signieren könne. Doch kaum hatten wir uns freudig in Bewegung
gesetzt, als uns ein rücksichtsloser Aufseher auch schon zurechtwies, den Drehplatz
sofort wieder zu verlassen. Anthony Hopkins winkte uns zwar erneut zu, doch es bestand
keine Chance mehr, sich ihm zu nähern: Plötzlich setzte sich nämlich der ganze Zug in
Richtung Stadtmitte in Bewegung, samt Kamera, Lastwagen und Anhänger, auf dem sich das
Filmauto und Mr. Hopkins befanden! Die Scheinwerfer wurden abgebaut und der Drehort
verlassen. Zurück blieben lediglich die im Wind flatternden Klebebänder auf den
Mittelstreifen...
Johannes, nun stolzer Besitzer eines signierten Lecter-Aufstellers, meinte anschließend,
Anthony Hopkins wirke, wenn er vor einem steht, wie ein Riese.
Auf mich machte er einen sehr netten und sympathischen Eindruck.
© 1992 by Frank S.
(Hopkins Files Nr.4)
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