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La Belle Noiseuse
von Lilith

Teil 2 von 4

Kapitel 4

Ich habe es geschafft! Wenn man bedenkt, mit welchem personellen und materiellen Aufwand man Hannibal Lecter bereits gejagt hat und welche der besten Hirne des FBI und anderer vergleichbarer Institutionen schon versucht haben ihm, auf die Spur zu kommen!

Meine Wenigkeit hat dazu ganze zwei Monate und vier Tage benötigt, aber ich muss fairerweise zugeben, dass ich all meinen illustren Kollegen eine entscheidende Kleinigkeit voraus habe: Ich kenne Hannibal Lecters Verhaltensweisen und Vorlieben wie kaum jemand anderer. Von ihm selber einmal abgesehen, natürlich.

Selbstverständlich konnte ich mich für meine neuerliche Suche nicht der offiziellen Kanäle des FBI bedienen. Ich wage gar nicht mir vorzustellen, welche Hölle über mich hereingebrochen wäre, wenn irgendetwas über meine Nachforschungen bekannt geworden wäre.

Es hat aber in diesem Zusammenhang gewisse Vorteile als Paria zu gelten, auch wenn es im normalen Alltag erhebliche Depressionen mit sich bringt. Die Leute schauen einem nicht mehr in die Augen, wenn man ihnen zufällig am Gang begegnet. Sie sprechen nur mehr über das Wetter und die Tagespolitik, wenn man sich zufällig mit ihnen beim Kopierer trifft. Sie versuchen, überhaupt die Nähe derer zu vermeiden, die das System herausgefordert und dabei verloren haben. Es ist fast so, als hätte man sich eine ansteckende Krankheit eingehandelt.

Das erspart einem aber andererseits auch die Verlegenheit, plausible Ausreden für irgendwelche seltsam erscheinenden und verdächtigen Aktivitäten erfinden zu müssen. Die Leute neigen einfach dazu, dich geflissentlich zu übersehen und man erregt daher auch kein besonderes Interesse.

Aus diesem Grund konnte ich – nach meinem üblicherweise öden Arbeitstag als bessere Sekretärin und Aktenordnerin – vorsichtig, aber praktisch ungestört, meine Nachforschungen betreiben.

Mein Ansatz, den Aufenthaltsort Hannibal Lecters ausfindig zu machen, war denkbar einfach: Ich folgte einfach meinem Gefühl. Und dieses Gefühl sagte mir, dass er sich wieder in den Staaten aufhielt.

Warum?

Nun, wenn man seine Nervenstärke und vor allem seine Ansprüche, die er an das Leben stellt, in die eigenen Schlussfolgerungen mit einbezieht, bleiben eigentlich nicht viele Flecken auf der Weltkarte übrig, die er auf Dauer mit seiner Anwesenheit beehren würde.

Europa, mit Sicherheit sein bevorzugtes Ziel, ist für ihn nach Pazzis spektakulärem Ableben derzeit ein zu heißes Pflaster. Die italienischen Behörden und Interpol sehen es als persönliche Ehrensache an, den Mörder des bestechlichen und ignoranten Commendatore zu stellen. Natürlich könnte Hannibal Lecter einfach untertauchen, aber ich denke, dass in Europa bis auf weiteres alle für den guten Doktor interessanten kulturellen Aktivitäten entsprechend überwacht werden. Und ein Hannibal Lecter ist nun einmal kein Charakter, der sich das Recht auf Kunstgenuss absprechen lässt.

Asien? Für einen vorübergehenden Aufenthalt sicher denkbar, aber auf Dauer eignet sich dieser Teil der Welt für einen Mann wie Hannibal Lecter nicht, da er als Ausländer dort ebenso unauffällig wäre, wie ein bunter Hund.

Die Karibik mit ihren Bilderbuchstränden und malerischen Sonnenuntergängen? Um hier als unauffällig zu gelten müsste er sich in schreiend bunten Hemden und Shorts unter die Touristenmassen mischen. Ich kann ihn mir jedenfalls beim besten Willen nicht in einem derartigen Outfit, in einem Liegestuhl unter Palmen sitzend und mit einem Caipirinha in der Hand, vorstellen.

Und der gute Doktor mitten unter Kängurus? Undenkbar. Australien hat einem Touristen zwar einiges zu bieten, aber kulturell und kulinarisch ist dieser Kontinent für einen so ausgefeilten Kunstkenner und Gourmet doch ein wenig zu gemächlich und zu öde. Und wir alle wissen ja, dass es nur wenige Dinge gibt, die Hannibal Lecter so sehr hasst wie Langeweile...

Südamerika? Da gäbe es einige denkbare Möglichkeiten, aber nein... mein Gefühl sagte mir einfach, das er sich momentan im Lande aufhielt.

Nachdem ich diese Entscheidung für mich getroffen hatte, entwickelte ich eine Strategie für mein weiteres Vorgehen. Die USA ist zwar das Land, dem man die Meisterwerke der Natur zuspricht, aber das wirklich gehobene kulturelle Leben spielt sich nur an einigen wenigen, besonderen Flecken ab.

Ich schloss für mich aus, dass er sich mitten in diesen Zentren aufhielt, denn er steht immer noch auf der Liste der zehn Meistgesuchten. Auch wenn ihm die großen Städte Anonymität garantierten, würde er doch, aufgrund seiner Ansprüche an Wohn- und Lebenskultur, eine durchaus passable Angriffsfläche bieten. Etwas außerhalb aber, auf dem Land, mit all seinen hübschen, oft sehr isoliert gelegenen Landhäusern und den Wochenenddomizilen der Reichen, kann er all diese Bedürfnisse relativ unbemerkt befriedigen. Er würde sich dabei aber auch nicht allzu weit aus dem Radius der Kulturmetropolen entfernen wollen.

Den Gedanken, nach einem Haus oder etwas Privatem zu suchen, das sich in seinem Besitz befand, ließ ich sehr schnell wieder fallen. Er musste jederzeit und immer damit rechnen, aufzufliegen. Der betreffende Unterschlupf wäre für ihn in diesem Fall nie wieder zu gebrauchen und aus diesem Blickwinkel wäre ein gekauftes Haus, selbst für einen Mann mit seinen finanziellen Ressourcen, glatte Geldverschwendung. Ich war mir andererseits auch ziemlich sicher, dass es keinen unbekannten Grundbesitz - aus der Zeit vor seiner Verhaftung als Chesapeake-Ripper - mehr gab. Es gibt nicht viele Menschen, deren Vergangenheit und Besitzverhältnisse so genau durchleuchtet worden sind, wie die von Hannibal Lecter.

Eine Mietwohnung mit der Aussicht auf lästige Nachbarn würde wiederum nicht genug Anonymität garantieren.

Ein Mietshaus also. Das er keinen Mietvertrag auf unbeschränkte Zeit abschließen würde und dieser Mietvertrag nur innerhalb einer gewissen Zeitspanne, nämlich seinem erneuten Auftauchen in den USA vor dem Verger-Desaster und seinem letzten Besuch bei mir, abgeschlossen worden sein konnte, schränkte die Möglichkeiten erneut stark ein.

Die oben beschriebene Zeitspanne ergibt sich aus meiner Überlegung, dass er vor seinem unrühmlichen Auftritt auf Vergers Farm einen Unterschlupf gehabt haben musste. Nach dem Dinner hatte er dann wahrscheinlich Hals über Kopf das Land verlassen müssen. Allerdings nicht für lange, denn er ist ja kurze Zeit später wieder bei mir aufgetaucht. Ich weiß zwar, dass er eine sehr gute Identität für seine Reisen besitzen muss, aber man sollte sein Glück auch nicht überstrapazieren. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass er nach unserer Begegnung das Land sofort wieder verlassen hat.

Nein, er würde jetzt wahrscheinlich unauffällig ein paar Monate warten, bis sich der mediale Aufruhr um die Verger Affäre gelegt hätte, um dann unbehelligt und unerkannt die USA wieder verlassen zu können. Das hieß aber, dass er sich spätestens ab dem Zeitpunkt unserer letzten Begegnung eine dauerhafte Bleibe gesucht haben musste.

Ich konzentrierte mich bei meiner Suche also auf alle – vorzugsweise einsam gelegenen - Mietshäuser der gehobenen Kategorie in einem maximalen Radius von zwei Stunden und mit ausgezeichneten Verbindungen zu den kulturellen Zentren unseres Landes, die im fraglichen Zeitraum vermietet worden waren.

Die Liste war nicht allzu lang, umfasste allerdings immer noch mehrere Seiten voller Angaben und das in mehreren Staaten. Ich sah mich außerstande, innerhalb eines angemessenen Zeitraumes, alle aufgelisteten Örtlichkeiten aufzusuchen und vor Ort Nachforschungen anzustellen, da ich ja, wie gesagt, die offiziellen Kanäle nicht benutzen konnte. Also musste ich die Liste weiter einschränken, bzw. einen Punkt finden, an dem ich mit meinen Observierungen beginnen konnte, ohne gleich ein paar Tage Urlaub zu nehmen und mein Erspartes opfern zu müssen.

Ich beschloss deshalb, aus rein praktischen Gründen, zunächst einmal mit den Gebieten zu beginnen, die innerhalb meiner eigenen Erreichbarkeit lagen und die etwas weiter entfernt gelegenen erst zu berücksichtigen, wenn sich diese Orte als Fehlversuche erwiesen hätten.

Ich persönlich hätte Maryland ohnehin den Vorzug vor den anderen in Frage kommenden Standorten gegeben, denn hier kann man, wie nirgendwo sonst in den Staaten, einen gehobenen Lebensstil pflegen, der dem entsprechenden europäischen Standard sehr nahe kommt. Dass ich ihn dort aber praktisch auf Anhieb finden würde, war dann doch eine große Überraschung für mich.

Als Angehörige des FBI war ich in der Lage, bei den zuständigen Behörden vor Ort Informationen einzuholen, die den von mir festgelegten Kriterien entsprachen. Ich siebte schnell ein paar aus, die mir aus verschiedentlichen Gründen im Hinblick auf ein mögliches Arrangement mit Hannibal Lecter als passend erschienen. Leider war ich auf diesen Umweg angewiesen, denn Mietverträge gelten in unserem Land als Privatvergnügen, sind als solches nicht meldepflichtig und können daher offiziell auch nicht eingesehen werden.

Die behördlichen Informationen glich ich dann mit der Angebotspalette der - während des fraglichen Zeitraumes – in Frage kommenden Immobilien ab. Das Durchforsten der Fülle an Informationen war der schwierigste und zeitraubendste Teil der Operation. Ich schlug mir ganze Nächte um die Ohren, in denen ich entsprechende Listen von Immobilienbüros, Maklerangebote, in Frage kommende Internetseiten, sowie Annoncen in Ortsblättern durchging und aussortierte. Danach hatte ich aber eine Liste in der Hand, deren Umfang mir nicht vor Verzweiflung den Schweiß aus allen Poren trieb und mit der ich nun mit meinen Nachforschungen vor Ort beginnen konnte.

Das Haus, das Dr. Lecter von einem deutschen Lobbyisten nur wenige Wochen vor seiner Entführung durch Mason Verger gemietet hatte, war Nr. 17 auf meiner Liste. Es stand deshalb nicht noch weiter vorne, weil ich als Kriterium auch die Mietdauer in meine Überlegungen miteinbeziehen musste. Häuser werden selten kürzer als ein Jahr lang vermietet und dieser Zeitraum erschien mir auch sehr passend für den Lebensstil eines Flüchtigen, wie Hannibal Lecter. Deshalb musste ich die fraglichen Lokalitäten in erster Linie nach dem Datum ihrer Vermietung reihen, damit er mir nicht durch einen Ortswechsel in letzter Sekunde durch die Lappen ging. Das Haus des Lobbyisten war aber meiner Rechnung nach noch eine ganze Weile vermietet. Es gab dringlichere Fälle, die ich vorher abklären musste.

Punkt für Punkt arbeitete ich nun jedes der aufgelisteten Häuser durch und holte Informationen über die Bewohner ein. Ich fuhr oft noch nach meiner Arbeit hinaus, um mich selber davon zu überzeugen, dass ich keine falschen Angaben erhalten hatte, ehe ich das betreffende Haus endgültig von meiner Liste strich.

Die Überprüfung von Hannibal Lecters Haus fiel auf ein Wochenende. Es liegt an der Küste von Maryland, in der Nähe der Chesapeake-Bay. Da die Landschaft in dieser Gegend sehr reizvoll ist, sagte ich mir, dass ich wenigstens einen schönen Ausflug gemacht hätte, wenn schon nichts Sinnvolles bei meinen Nachforschungen herauskommen würde.

Eigenartigerweise war ich genau bei diesem Haus nicht darauf gefasst gewesen, ihn anzutreffen. Möglicherweise wegen seiner Nähe zum Haus des verstorbenen Mr. Krendler, das ja ebenfalls an der Chesapeake-Bay zu finden ist. Manchmal ist seine Chuzpe atemberaubend.

Ich traf an einem herrlichen und sonnigen Samstagvormittag bei dem fraglichen Haus ein. Es ist ein sehr schönes, stilvoll und geräumig aussehendes, sowie relativ abgeschieden gelegenes Landhaus, direkt an den Ufern des Chesapeake.

Ich legte mich in einem kleinen Waldstück, das gegenüber der Einfahrt lag, auf die Lauer und wartete zunächst einmal ab. Da sich weder im Haus, noch im Garten etwas regte, nahm ich an, dass der derzeitige Bewohner dieses hübschen Häuschens im Moment nicht zu Hause war.

Ich beschloss also, zur nächstgelegenen kleinen Ortschaft zu fahren, wo ich in einem kleinen Coffee-Shop einen leichten Lunch zu mir nahm und unauffällig Erkundigungen über das fragliche Haus einzog. Natürlich reagierte die Kellnerin einer Fremden gegenüber zunächst zurückhaltend, aber als ich ihr enthusiastisch schilderte, wie sehr mir das Häuschen beim Vorbeifahren gefallen hatte und ich sie fragte, ob es möglicherweise zu vermieten sei, siegte der Klatschtrieb über ihr angeborenes Misstrauen. Die Informationen, die ich von ihr erhielt, waren außerordentlich vielversprechend.

Ihren Angaben zufolge wurde das Haus bereits seit geraumer Zeit von einem älteren, aber sehr gut aussehenden und eleganten Herrn bewohnt, der allerdings immer wieder – auch für längere Zeit - verreisen würde und sich in dem kleinen Küstenstädtchen selber so gut wie nie blicken ließ. Es war aber während der wenigen Kontakte, die es zur einheimischen Bevölkerung gegeben hatte, aufgefallen, dass er ausgesprochen höflich und charmant im Umgang mit anderen Leuten war.

Die Kellnerin – und auch die übrigen Einwohner des Städtchens - hielten ihn für einen reichen, kinderlosen Witwer, der sich durch den Verlust seiner geliebten Frau tief getroffen, für eine Weile in die Einsamkeit zurückgezogen hatte.

Ich konnte die Erregung, die während dieses Gespräches von mir Besitz ergriffen hatte, nur mit Mühe unterdrücken. Gut, es konnte sich immer noch um einen Zufall und um einen anderen "älteren" Herren handeln, aber diese Informationen passten genau in das Schema, nach dem ich suchte.

Ich wollte die gute Frau aber nicht durch einen überstürzten Aufbruch verunsichern, deshalb zwang ich mich dazu, mein Essen in Ruhe zu beenden und mich noch eine Weile mit ihr zu unterhalten. Dann stand ich auf, kaufte noch ein Sandwich und eine Coke – man weiß nie, wie lange man bei einer Observierung ausharren muss – und verließ den Shop wieder.

Als ich wieder in meinem Beobachtungswäldchen angekommen war, stellte ich fest, dass sich die Situation in der Zwischenzeit noch nicht verändert hatte. Ich würde also, trotz meiner bohrenden Ungeduld, warten müssen.

Der Nachmittag verging nur langsam, aber die warme Wintersonne und die würzige, erfrischende Seeluft trösteten mich für einige Stunden darüber hinweg, dass ich nur untätig herumsitzen konnte. Als die Sonne aber schließlich begann, hinter dem Horizont zu versinken und die Dämmerung einfiel, hielt ich es nicht mehr länger auf meinem Beobachtungsposten aus.

Ich stieg aus dem Auto und beschloss, mir die Umgebung von Haus und Garten näher anzusehen. Das war zwar riskant, aber ich war davon überzeugt, dass niemand in diesem Haus war. Außerdem war die Strasse für mich von beiden Seiten her gut einzusehen. Ich lief, so schnell ich nur konnte, zum Haus hinüber, die Einfahrt hoch und versteckte mich hinter einer großen Platane, die neben der geräumigen Garage stand. Von dort, observierte ich erneut das Haus, bis ich mir absolut sicher war, dass sich niemand darin befand.

Daraufhin schlich ich um die Garage herum, bis ich auf eine ausgedehnte Terrasse stieß, die erst an einer Reihe von Stufen endete. Von dort konnte man offensichtlich zum Ufer des Sees hinuntersteigen. Ich seufzte auf, als ich an mein eigenes, kleines, enges Reihenhaus dachte und daran, wie gerne ich selber so ein Haus mit solch einem Garten bewohnen würde.

Die Terrassentür war natürlich verschlossen. Ich zog für einen kurzen Moment in Erwägung, meine enorme Erfahrung im spurenlosen Aufbrechen von Türen zum Einsatz zu bringen, dachte aber im letzten Augenblick daran, dass ich ausgerechnet heute Parfüm aufgelegt hatte. Ich bin ein Gewohnheitstier und mein Geschmack diesbezüglich, hat sich seit unserer ersten Begegnung im Kerker in Baltimore nicht sonderlich geändert. Darum benutze ich immer noch hin und wieder L'Air du Temps, so wie auch an diesem Tag.

Obwohl ich mich wegen dieser Unbedachtheit hätte ohrfeigen können, musste ich doch wohl oder übel auf einen Erkundungsgang ins Innere des Hauses verzichten. Wenn Hannibal Lecter wirklich der "ältere Herr" war, der dieses Haus bewohnte, dann sollte ich es mir lieber verkneifen, seine heiligen Hallen zu betreten und dabei eine unverwechselbare Duftmarke zu hinterlassen.

Es erschien mir in diesem Zusammenhang überhaupt besser, wieder zu meinem schön im Unterholz versteckten Mustang zurückzukehren. Der Gedanke, ihm unvorbereitet in die Hände zu fallen, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken und ich bekam plötzlich Angst vor meiner eigenen Courage.

Ich machte mich daher also unverzüglich auf den Rückweg und seufzte vor Erleichterung laut auf, als ich unbehelligt wieder in der Deckung meines Beobachtungsposten verschwunden war.

Wie ich feststellte, kam dieser Entschluss keine Sekunde zu früh, denn gerade als ich mein Sandwich ausgepackt und hineingebissen hatte, konnte ich in der Ferne das Röhren eines Motors hören.

Alle, die mich kennen, wissen, dass ich ein Autonarr bin und daher konnte ich das Motorengeräusch sofort einem bestimmten Autotyp zuordnen.

Ich hielt inne um zu lauschen, aber obwohl ich vor meinem inneren Auge bereits wusste, was ich gleich sehen würde, verschluckte ich mich doch beinahe an meinem Bissen, als ich den schwarzen Jaguar sah, der die Auffahrt entlang fuhr. Ich musste gar nicht mehr darauf warten, dass der Fahrer aus dem Wagen ausstieg, um zu wissen, dass ich meine Zielperson gefunden hatte.




Kapitel 5

Als ich ihn dann aber leibhaftig vor mir sah, stockte mir doch der Atem. Ich konnte es kaum glauben, dass ich das Unmögliche geschafft hatte. Und besser noch, ich hatte es im Alleingang geschafft. Das Gefühl des Triumphs war absolut überwältigend. Ich hatte sie alle geschlagen, meine besserwisserischen Kollegen, meine ungläubigen Vorgesetzten, die Klatschpresse und sogar den guten Doktor selbst.

Ich setzte mich wieder in mein Auto, lehnte mich zurück, schloss meine Augen und kostete zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder das Gefühl aus, etwas wirklich Herausragendes geleistet zu haben.

Sein Anblick bereitet mir aber auch aus einem anderen Grund ein unaussprechliches Vergnügen, denn nun hatte ich die Chance, wirklich meinen Frieden mit ihm machen. Wie die ganze Sache auch immer ausging, sie würde einen Abschluss finden und ich konnte endlich daran denken, mein Leben wieder in den Griff bekommen.

Ich wartete noch eine Weile, bis die Nacht völlig hereingebrochen war, dann fuhr ich ganz vorsichtig aus meinem Versteck heraus und verschwand so unauffällig wie möglich in der Dunkelheit.

In dieser Nacht bekam ich einen ersten Vorgeschmack auf mein neues Leben, denn ich schlief ruhig und sanft wie ein kleines Kind. Nichts störte meinen Schlaf, nicht das Schreien der Lämmer, nicht meine angstgeplagten Zustände und auch keine heimlichen und unterdrückten erotischen Phantasien über Dr.Lecter.

In den folgenden Tagen arbeitete ich geistig all die Dinge durch, die nun in weiterer Folge geplant und vorbereitet werden mussten, und ich beschaffte mir alle für die Durchführung meiner Pläne relevanten Informationen.

So versuchte ich zum Beispiel, alles über Hannibal Lecters Kontakte zu anderen Menschen herauszufinden, insbesondere zu Frauen, um unliebsame Einmischungen zu vermeiden. Das Ergebnis war schnell zur Hand, denn es gab gar keine, zumindest nicht auf zwischenmenschlicher Basis. Er vermied jegliche Kontakte, wann und wo immer es ihm möglich war, und ich konnte auch keinerlei Hinweise darauf finden, dass er irgendwelche Prostituierte aufsuchte oder zu sich nach Hause bestellte, um wenigstens seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich darüber freuen oder ernsthafte Bedenken haben sollte. Wie ich Krendler bei unserem letzten Gespräch im Keller des FBI-Gebäudes mitgeteilt hatte, lagen seine sexuellen Präferenzen tatsächlich völlig im Dunkeln.

Er hatte sich auf diesem Gebiet schon immer ausgesprochen diskret verhalten und keine einzige seiner vermutlichen Geliebten aus der Zeit vor seiner Einkerkerung hatte sich bereit erklärt, dem FBI diesbezüglich Auskünfte zu erteilen. Auch aus seiner Zeit in Italien gab es nicht den leisesten Hinweis auf irgendwelche Aktivitäten, die Rückschlüsse auf sein Verhalten als Sexualpartner erlaubt hätten.

Oh, ich bin nicht so unbedarft und romantisch um zu glauben, dass es in all den Jahren, die seit seiner Flucht vergangen sind, keine derartigen Kontakte gegeben hätte. Letzten Endes ist auch ein Hannibal Lecter nur ein Mann.

Aber nur Mrs. Rosencrantz hatte mir gegenüber die kleine, aber bezeichnende Aussage gemacht, wie ungewöhnlich anziehend er auf die Frauen wirken konnte, die er mit seiner Aufmerksamkeit bedachte.

Auch die wenigen kurzen, physischen Kontakte zu mir waren dergestalt, dass man ihm, wie ich glaube, durchaus eine auf Frauen ausgerichtete Sexualität unterstellen darf. Ich kann nur hoffen, dass ich mich in diesem Punkt nicht irre, denn das wäre nicht nur unbeschreiblich peinlich für mich, sondern auch mit ziemlicher Sicherheit absolut tödlich. Und obwohl ich genau weiß, dass ich auf extrem gefährlichem Terrain mit Feuer spiele, habe ich doch keinen Todeswunsch.

Nun ja, wenigstens waren seine furchtbaren Morde – und das wird auch von maßgeblichen Stellen herausgestellt und unterstrichen – in keinster Weise sexuell motiviert. Ein Umstand, der ihn aus dem üblichen Schema für Serienmörder herauswirft und einer der Gründe, warum es so lange gedauert hat, ihn zu schnappen.

Nachdem ich nunmehr seinen Wohnort kannte, war es ein Leichtes für mich, die falsche Identität, die er benutzte, auszuforschen. Entsprechend der Geschichte, die mir die Kellnerin erzählte hatte, gab er sich als pensionierter Arzt und Witwer, Dr. Thomas Hayward aus.

Ich musste beinahe lachen, als ich seinen Namen endlich Schwarz auf Weiß vor mir hatte. Ein Hannibal Lecter verleugnet sich nun einmal nicht selbst und er würde daher niemals dauerhaft auf Titel und Würden verzichten. Geschieht ihm nur recht, dachte ich mit einem Anflug von Bosheit, dass es letztendlich sein Standesdünkel war, der es mir ermöglicht hatte, ihm auf die Schliche zu kommen.

Die alltäglichen Routinen des guten Doktors interessieren mich eigentlich weniger als die Aktivitäten, die er sich für einen ganz bestimmten Tag vorgenommen hat. Mit meinem neuerworbenen Wissen ausgestattet, konnte ich nun daran gehen, seinen Vorbereitungen für diesen besonderen Tag auszuforschen. Während dieser ganzen Zeit aber, achtete ich sorgfältig darauf, meine alltäglichen Routinen aufrecht zu erhalten, denn es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er mich aus der Distanz ebenfalls observierte.

Nachdem ich sorgfältig meine Arrangements getroffen und alle diesbezüglichen Besorgungen erledigt hatte, musste ich mich schließlich nur noch damit auseinandersetzen, meinem Erscheinungsbild den richtigen Schliff zu verpassen.

Normalerweise erlaubt es mir meine im Weisenhaus anerzogene Sparsamkeit nicht, mehr als das absolut Notwendige für so etwas Unwichtiges wie Kleidung auszugeben. Dementsprechend praktisch und funktionell ist meine Kleidung.

Es mag zwar jetzt komisch klingen, aber ganz tief in meinem Inneren befindet sich eine kleine blutende Stelle, genau da, wo mich der gute Doktor immer wieder mit dem Thema Stil und Geschmack aufgezogen hat.

Ist es da nicht verständlich, dass ich nach all den Niederlagen nunmehr das große Bedürfnis habe, diesem Mann zu zeigen, dass mein Sinn für Geschmack mit dem seinen durchaus mithalten kann, auch wenn es meine finanziellen Ressourcen einfach nicht erlauben, diese Vorliebe im alltäglichen Leben auszuleben?

Aus diesem Grund habe ich beschlossen, zu diesem speziellen Anlass nicht das Abendkleid zu tragen, das er mir bei unserer letzten Begegnung geschenkt hatte, sondern mir einmal, nur ein einziges Mal in meinem Leben, etwas wirklich Teures und Exklusives zu leisten, etwas, das der Vorstellung und dem persönlichen Ausdruck von Clarice Starling entspricht.

Ich beschloss, bei der Auswahl meines Outfits auf die klassischen europäischen Designer zu setzen. Es dauerte sehr lange, bis ich eine Kollektionen fand, die meinen Vorstellungen und Bedürfnissen entsprach, aber schließlich entschied ich mich für ein grünlich-schwarz schimmerndes Seidenkleid im Empirestil, dessen Schnitt mein Dekollete mehr als nur vorteilhaft zur Geltung bringt.

Das kleine, aber sehr exklusive französische Modehaus bot zu dem Kleid auch passende Wäsche, Strümpfe und Schuhe an, ein Angebot, das ich erfreut und in großem Umfang wahrnahm.

Als meine Bestellungen nach erfreulich kurzer Zeit eintrafen, verbrachte ich einen ganzen Abend nur damit, meine Neuerwerbungen an und auszuziehen und mich dabei im Spiegel zu betrachten. Ich konnte kaum glauben, dass die Frau, die sich mir im Spiegel zeigte, dieselbe war, die noch vor wenigen Stunden wie eine graue Maus in abgewetzten Jeans und schwarzem Tanktop im Keller des Bureaus über Stapeln von abgelegten Akten gebrütet hatte.

Mir ist natürlich schon bewusst, dass mein Gesicht und mein Körper recht gefällig sind, aber ich war schlichtweg fassungslos darüber, wie attraktiv eine Frau mit dem entsprechenden Outfit wirken kann. Ich versuchte mich selber mit den Augen eines Mannes zu betrachten und war ehrlich erstaunt über das Ergebnis. Zum ersten Mal SAH ich wirklich, warum ich trotz meiner unterkühlten Art so viele begehrliche Blicke erntete. Und Hannibal Lecter hatte wieder einmal recht gehabt, meine Beine sind wirklich sehr ansehnlich.

Der nächste Schritt war der Besuch einer Visagistin, bei der ich mir ebenfalls zum ersten Mal in meinem Leben fachlichen Rat bezüglich eines sehr dezenten, aber wirkungsvollen Make Ups, sowie der für meinen Typ in Frage kommenden Farben und Materialien holte. Gleich anschließend machte ich einen Besuch bei einem Coiffeur und ließ meiner Mähne, die ich ansonsten immer lieblos zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, einen modischen Schnitt verpassen.

Auch mein Körper musste noch ein wenig in Form gebracht werden, deshalb setzte ich mich mit der Farmacia di Santa Maria Novella in Florenz in Verbindung und bestellte dort die Handcreme, die er eigens für mich hatte mischen lassen. Darüber hinaus ließ ich mir eine ganze Pflegeserie - Shampoo, Seife, Badeöl und Körpermilch - mit derselben Duftkomposition zubereiten und zu mir nach Hause schicken.

Die ganze Aktion hat mich ein nicht unbeträchtliches Vermögen gekostet, aber ich fühle mich derzeit so wohl wie noch nie in meinem Leben, obwohl die Puritanerin in mir ständig das Wörtchen "dekadent" flüstert und mich die ganze Aktion irgendwie an eine Haremsdame erinnert, die sich pflegt und ausstaffiert um ihrem Herrn zu gefallen.

Eine Sache gibt es da allerdings noch, die schwerer wiegt als alle Bedenken, die meine puritanische Erziehung jemals in mir erzeugen könnte. Alle Frauen, die sich mit ihm eingelassen haben, waren mit Sicherheit im Unklaren darüber, welche abscheulichen Dinge der Mann in ihren Armen begangen hat. Ich kann dieses Privileg nicht für mich beanspruchen, denn ich weiß genau, mit wem ich mich möglicherweise einlasse.

Letztendlich hat die Klatschpresse mit ihren schlimmsten Behauptungen also Recht gehabt und ich bin tatsächlich eine Braut des Teufels. Das wirklich befremdende und erschreckende daran, ist aber nicht diese Tatsache an sich, sondern die Erkenntnis, dass sie mich völlig kalt lässt.

© 2003 by Lilith

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H I N W E I S :
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Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
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